Hilfsprojekt in Bhorugram by Nicola: Wenn Helfern nicht geholfen wird (=”Managed Care”?)

Aufgrund des längeren Ausbleibens eines Berichtes könnt ihr euch wahrscheinlich denken, dass wir trotz unserer Probleme, welche wir zu Beginn in Bhorugram hatten, unser Hilfsprojekt umsetzen konnten. Dies stimmt zwar, wer aber nun denkt, dass das Ganze friedlich abgelaufen sei oder dass wir solange in der ländlichen Gegend von Rajasthan geblieben sind, wie ursprünglich geplant, der täuscht sich gewaltig. Beginnen wir aber ganz von vorne, d.h. mit der Beschreibung unseres Projekts.

Wir hatten ja bereits im letzten Bericht erwähnt, dass wir uns wegen des nicht vorhandenen Spitals dem lokalen Arzt bei seiner Feldvisite in den umgebenden Dörfern angeschlossen haben. Dort konnten wir beobachten, dass zahlreiche ältere Personen an Atembeschwerden und/oder Knieproblemen leiden. Da auch die vom Arzt geführte Statistik diesen Verdacht erhärtete (knapp 15% aller Patienten kommen wegen einer der beiden Problematiken zur Sprechstunde; dies entspricht rund 1’500 Personen pro Jahr) und beide Leiden mit einfachen und kostensparenden physiotherapeutischen Übungen behandelt werden können, haben wir beschlossen, ein passendes Konzept inklusive benötigter Hilfsmaterialien (Poster und Anleitungen; siehe weiter unten für Details) zu erstellen und das Team der “Medical Mobile Unit” – kurz MMU – in der Instruktion der Übungen zu schulen, so dass sie den Patienten in Zukunft eigenständig helfen können. Jenny übernahm dabei in erster Linie den medizinischen Teil, Nicola die Projektkoordination (entsprechend unseren beruflichen Qualifikationen).

Da in Indien – und speziell in der ländlichen Gegend von Rajasthan – viele Menschen unter der Armutsgrenze leben (nach statistischen Angaben im ganzen Land mehr als 400 Millionen) ist Analphabetismus ein weitverbreitetes Problem. Zur Aufklärung und Information der Dorfbewohner werden deshalb sehr oft grosse Poster verwendet, mit welchen Zusammenhänge bildlich und einfach dargestellt werden. Auch wir haben uns diese Idee zu Nutze gemacht und für jedes der beiden Leiden ein Poster entworfen, welches bildlich darstellt, woher die Erkrankung kommt (vor allem Rauchen im Falle von Atembeschwerden bzw. die Sitzhaltung im Falle von Knieproblemen), welche Übung man dagegen machen sollte (Schritt für Schritt erklärt) und in welcher Frequenz, was diese genau bewirkt, welche Präventionsmassnahmen existieren (weniger rauchen, auf Stühlen statt am Boden sitzen, etc.) und welches langfristig die Vorteile sind, wenn man die Übung macht.

Da man ja nicht jedem der jährlich 1’500 Patienten ein (für indische Verhältnisse) teures Plakat nach Hause mitgeben kann und die Sprechstunde der MMU nur alle zwei Monate im gleichen Dorf stattfindet, haben wir darüber hinaus eine kleine Broschüre designt, welche den Dorfbewohnern mitgegeben wird, damit sie nicht alles Gehörte wieder vergessen. Darüber hinaus wurden für beide Übungen einfache und günstige Hilfsmittel ausgeteilt, welche die Übungseffizienz verbessern und die Patienten zusätzlich zum täglichen Training motivieren sollen (ein kurzer Strohhalm für die Atemübung; einfacher Plastiksack für Knieübung). Diejenigen, welche noch mehr Details zum Hilfsprojekt selbst erfahren möchten, können sich hier unseren Abschlussbericht als PDF herunterladen (ist aber nur in Englisch verfasst!).

Die Zeit und das Projekt in Bhorugram waren für uns in vieler Hinsicht sehr bereichernd und wir haben viele Erfahrungen – im Positiven wie im Negativen – machen dürfen. So wurde Jenny beispielsweise von der Frau des Spital-Hauswarts zur vollwertigen Inderin “umgewandelt”, inklusive Kleidung (Sari), Schmuck, Schminke und sogar “Inder-Punkt” Smiley Auch die Schüler und Studenten der Schule in Bhorugram, in deren Kantine wir öfters gegessen haben, waren immer sehr freundlich und neugierig. Teilweise wurden wir auch spontan mit Süssigkeiten beschenkt, wobei dies jeweils nicht immer ganz uneigennützig war: ein Foto mit uns “musste” dafür schon drinliegen Smiley Ein Erlebnis, welches uns ebenfalls noch lange in Erinnerung bleiben wird, war die Einladung zum Abendessen beim Arzt des MMU: wir wurden bedient wie die Könige…unsere Gastgeber selbst haben während der ganzen Zeit jedoch keinen Bissen gegessen! Ausserdem legten sie grossen Wert darauf, dass wir Photos mit ihnen und uns schossen, bei welchen wir ihnen das Gastgeschenk überreichen… Dieses hatten wir ca. eine halbe Stunde vor der Einladung bei einem der Händler im Dorf gekauft. Da wir ursprünglich nicht wussten, “was man in Indien so mitbringt”, haben wir uns von ihm beraten lassen. Es kennt hier sowieso jeder jeden Smiley Abgesehen von dem Geschenk (ein Set Teetassen) hat der Händler uns auch beim täglichen Einkauf stark unterstütz, indem er Dinge, die nicht an Lager waren, einfach aus der nächst grösseren Stadt (35 Km entfernt) für uns besorgt hat. Das nennen wir Service… Unterstützung und Rat erhielten wir auch nicht zuletzt von den anderen Mitarbeitern der Organisation, wobei uns vor allem eine Szene in Erinnerung bleibt, bei welcher fünf (männliche) Mitarbeiter Jenny beim Kauf von traditioneller Kleidung (Punjab; Oberteil und Hose; wurde gekauft, um “indischer” zu wirken, d.h. den hier geltenden Anforderungen an die Sittlichkeit, welche kurze Ärmel und Hosenbeine für Frauen verbietet, zu entsprechen und weniger oft als leichtes “Touri-Opfer” erkannt zu werden) beraten und sorgfältig darauf achten, dass sie nicht vom Händler übers Ohr gehauen wird Smiley

Aber wie bereits im Titel angedeutet, gab es auch viele Dinge, welche uns Kopfzerbrechen bereitet und schlussendlich sogar zu unserer verfrühten Abreise geführt haben. Da wären zum einen sicherlich die “natürlichen” Gegebenheiten eines Hilfsprojektes im ländlichen Rajasthan: Extreme Hitze und Feuchtigkeit (bis zu 40 Grad, verbunden mit ca. 5 Minuten Regen pro Tag), daraus folgend paradiesische Verhältnisse für Mücken (welche hier teilweise auch Malaria übertragen) und zahlreiches anderes “Getier” (jeden Abend haben uns dieselben zwei Kakerlaken besucht), regelmässige Stromausfälle (in ganz Indien ein grosses Problem) welche – wenn man Glück hatte – (auch nachts) mit extrem lauten Dieselgeneratoren (natürlich direkt neben unserem Fenster) überbrückt wurden, extrem scharfes Essen (man schwitzt ja nicht sowieso schon genug…), welches darüber hinaus rein vegan war (als Ergänzung und um zu vermeiden, dass wir noch mehr Gewicht verlieren, haben wir tonnenweise Chips gegessen und Milch aus Milchpulver getrunken) und uns seltsame Träume bescherte, in welchen wir ausgehungert den nächsten MC Donalds überfallen und alles (Hühnchen-)Fleisch klauen (Rinder darf man hier leider ja nicht verspeisen) Smiley, der benachbarte Hindutempel, welcher jeden Morgen um ca. 4 Uhr die Gläubigen mit lauter Musik zum Gebet rief, das Fehlen einer Waschmaschine bzw. von Wäschereien (hatte zur Konsequenz, dass wir die Kleider mit extrem aggressiver Laugenseife selbst rubbeln und waschen mussten, was uns zeitweise an den Fingern die Haut von 80-jährigen verschafft hat) und die Tatsache, dass es hier nicht einmal ein Bierchen zu kaufen gibt (wirklich schrecklich hier Smiley).

Diese Umstände sind nicht gerade prickelnd. Da wir aber natürlich damit rechnen mussten (wir sind ja hier nicht im Luxusurlaub), wären sie nicht weiter schlimm gewesen, wenn da nicht auch noch die wirklich ärgerlichen (projektbezogenen) Probleme gewesen wären! Obwohl sich die Situation aufgrund unseres ersten Mails zwar kurzfristig verbessert hatte und wir zumindest die geforderten Materialien für unser Projekt einigermassen zeitgerecht (d.h. innerhalb von 48 Stunden statt einer Woche) erhielten, hatten wir nie das Gefühl, dass das lokale Management unser Projekt guthiess oder auch nur annähernd verstand! Dies liegt wohl auch daran, dass der “Manager” selbst kein Englisch spricht und der uns zugeteilte Assistent, welcher auch für die Übersetzungen zuständig war, dauernd durch Abwesenheit glänzte und sein Mails und Telefonanrufe nicht beantwortete. Der hauptsächliche Grund ist unsere Meinung nach jedoch die Überheblichkeit und Arroganz dieser Person und teilweise der ganzen Organisation, welche sich zwar mit zahlreichen indischen “Awards” und den Berichten von ausländischen Studenten brüsten, aus unserer Sicht aber jedoch nur sehr begrenztes bzw. gar kein Interesse an Projekten haben, welche von “Praktikanten” in Eigeninitiative durchgeführt werden. Die Situation verschlechterte sich soweit, dass wir in der letzten Woche in Bhorugram weitgehend vom Manager ignoriert wurden, er uns aus unserem Zimmer werfen wollte und sogar versucht wurde, bei uns einzubrechen! Obwohl die Bewohner Rajasthans zwar dringend Hilfe benötigen, hat diese Organisation sie nur sehr begrenzt verdient. Wer mehr Wert auf hierarchische Strukturen und Allmacht des Managements statt auf Diskurs und konstruktive Lösungen setzt, sollte nicht damit werben, ausländische Studenten und Fachkräfte als Praktikanten aufzunehmen!

Als Konsequenz haben wir – wie bereits zu Beginn gedroht – Bhorugram verlassen. Damit die letzten Schritte zur Umsetzung des Projektes trotzdem gelingen und unsere Arbeit wenigstens nicht umsonst war, haben wir den MMU-Arzt, welcher unsere Idee immer unterstützt hat, vor unserer Abreise über das weitere Vorgehen instruiert.

Nach einer fünfstündigen Jeepfahrt (kostet hier inklusive Fahrer umgerechnet 60 Franken Smiley ) sind wir wieder in Jaipur angekommen. Hier möchten wir nun noch die Sehenswürdigkeiten anschauen, bevor wir dann nach Agra weiterreisen.

Da Indien – wie im Werbeslogan erwähnt – einfach unglaublich ist und es auch in diesem Land zahlreiches Skurriles und Unglaubliches zu entdecken gibt, wollen wir auch hier auf die Dinge kurz eingehen, welche uns immer wieder erstaunen:

  • Vom Regen in die Traufe: Zumindest was Schmatzen und Rülpsen anbelangt, stehen die (ländlichen) Inder den Chinesen in nichts nach. Und dies obwohl hier keine Nudeln und Suppen gegessen werden!
  • Wenn man etwas von einem Inder möchte (z.B. Abfallsäcke zur Entsorgung von Petflaschen), dann erhält man es frühestens in zwei Tagen oder gar nie. Wenn umgekehrt die Person aber etwas von einem selbst will, muss dies immer sofort erfolgen und man wird nie vorgewarnt (als wir um einen Transport in die benachbarte Stadt baten, damit wir die Poster drucken lassen könne, wurden wir immer wieder vertröstet. Als dann aber die Möglichkeit da war, wurden wir am Sonntag morgen geweckt und es hat nicht einmal für einen Kaffee gereicht!)
  • Wenn Inder miteinander essen gehen, bleiben sie nur solange am Tisch sitzen, bis sie fertig gegessen haben. Es wird nicht gewartet, bis alle fertig sind geschweige denn noch sitzen geblieben, um etwas zu tratschen…
  • Die indische “ja-nein-könnte sein – Kopfbewegung”: Egal ob man etwas bespricht oder eine Frage stellt, die generelle Reaktion ist ein seitlicher Schlenker mit dem Kopf, den man nicht wirklich deuten kann (ist wahrscheinlich auch das Ziel). Dies kann zu allgemeiner Verwirrung und Missverständnissen führen und ist langfristig äusserst mühsam (“Unser Projekt, bla bla bla” – Schlenker – “Was meinst du?” – Schlenker und nichtssagende Antwort – “Kostet es also 100 Rupien pro Stück?” – Schlenker).
  • Die Beantwortung der Standardfragen des Smalltalks mit neuen Bekanntschaften (“Woher kommt ihr?”, “Was seid ihr von Beruf?”, “Seid ihr verheiratet?” und “Wie viele Kinder habt ihr?”) führt oft dazu, dass die fragende Person ein etwas falsches Bild von uns hat, was nur teilweise beabsichtigt ist. Aus ihrer Sicht sind wir a) Schweizer (=reich), b) Doktor und Spitaldirektor (“Physiotherapeutin” und “Projektleiter im Spital” sind nicht gerade bekannte Begriffe hier), c) verheiratet (ist beabsichtigte Antwort, da dadurch vieles vereinfacht wird) und d) unfruchtbar (wer ist denn schon 27 und hat keine Kinder?)
  • Unser “Fankult”: Egal wo wir auftauchen, wir sind schnell von einer Horde Einheimischer umgeben, welche uns ausgiebig betrachtet (fast schon beglotzt), mit uns spricht (vorausgesetzt, dass genügend Englischkenntnisse vorhanden sind) und mit uns fotografiert werden möchte (wenn einer anfängt, wollen alle ein Bild Smiley). Ein freundlicher junger Mann hat uns darüber aufgeklärt, dass der Grund dieses – bei Begegnungen mit Weissen durchaus übliche – Verhaltens darin liegt, dass jeder gerne mit uns sprechen würde und alle enorm stolz darauf sind, dass wir (als reiche Westler, welche ja alles haben) ihr Land besuchen.
  • Wenn Mitgift, Religion und Status stimmen, sind Gefühle egal: In Indien wird – trotz verbot – noch heute in der Regel innerhalb derselben Kaste/Hierarchiestufe geheiratet, wobei die Ehe meist von den Eltern der zukünftigen Partner arrangiert wird. Auch die erwartete Höhe der Mitgift bestimmt den Wert einer Frau auf dem Heiratsmarkt entscheidend mit (eigentlich ebenfalls verboten). Wie uns ein verzweifelter junger Mann erzählte, ist ausserdem die Liierung zweier Liebender verschiedener Religionen ein komplettes Tabu.
  • Wir verstehen nur Bahnhof: Wir mussten sehr schmerzlich feststellen, dass es in Indien anscheinend Orte gibt, welche mehrere Bahnhöfe mit dem gleichen Namen haben, die aber trotzdem hunderte Kilometer voneinander entfernt sein können. So geschehen in Rajgarh, der Stadt, von welcher wir einen Zug nach Jaipur nehmen wollten. Wir hatten das Ticket gebucht und waren pünktlich am Bahnhof. Als dort der Zug nirgends aufgelistet war, haben wir uns erkundigt, auf welchem Gleis er denn fahren würde. Die freundlichen Bahnangestellten haben uns dann aufgeklärt, dass unser Zug leider nicht an diesem Bahnhof, sondern an einem Zweiten verkehren würde, welcher 130 Kilometer entfernt sei. Da aber bis zur Abfahrt nur noch 15 Minuten verbleiben würden, sollten wir doch auf den nächsten warten (welcher erst in 20 Stunden verkehrt!!!). Wie ihr wisst, haben wir dann doch lieber den Jeep genommen…

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